Anton Reichas Experimentallabor

Practische Beispiele

1799 bis 1802 arbeitete Reicha am Projekt „practische Beispiele“. Es handelt sich hier um ein Denk- und Experimentierlabor im besten Sinn. Erst jüngst veröffentlicht, stellt es fast jede Konvention in beinahe systematischer Weise in Frage. Das fängt beim Format an; die Grenzen zwischen theoretischem Text, musiktheoretischem Beispiel und musikalischer Komposition als Werk verschwimmen. Oder vielmehr überschneiden sich diese Sphären, und Reicha lässt es zu, dass die Grenzen zu verschwimmen scheinen. Das Projekt besteht aus zwei Teilen, einem Text mit Musikbeispielen und einem Band mit 24 selbstständigen Kompositionen. Jedem Musikstück ist ein Abschnitt des Buches zugeordnet. Dort werden jeweils die Fragen diskutiert, mit denen sich das Stück beschäftigt. Neben Notenbeispielen, die zum Verständnis der intellektuellen Herausforderungen beitragen, enthalten einzelne Kapitel auch Beispielkompositionen, die fast gleichrangig neben dem Werk aus dem Notenband stehen können. Das zeigt die Unabgeschlossenheit des Kompositionsprozesses als Prinzip. Sowohl Text als auch Musik bilden einen Entfaltungsraum von Ideen.

Tafeln zu einzelnen Forschungsschwerpunkten aus Reichas Experimentallabor mögen uns auch heute noch anregen. Themen wie Vierteltöne, zusammengesetzte Taktarten, Musik ohne Takt oder ohne Tonalität und seine enge Kommunikation mit Ideen aus der Physik scheinen tatsächlich eher in unsere Zeit zu gehören als in die Zeit Beethovens, obwohl wahrscheinlich Beethoven diese Gedanken zumindest mitgedacht hat.

Texttafeln und Video zu Anton Reicha
sind zusammengestellt und kommentiert
von Caspar Johannes Walter.

Philosophisch-practische Anmerkungen
zu den practischen Beispielen

„…dass uns manches beim ersten Anblick
unmöglich scheint, dem wir endlich doch durch
anhaltendes Forschen Realität geben können. …“

Zusammengesetzte Taktarten
zu N° 3

„Wenn in der Musik Gedanken existiren, welche für ein gesundes Gefühl von Bedeutung sind, (das heißt welche das Herz rühren) und in keiner der üblichen Tacktarten aufgeschrieben werden können; fordert das nicht offenbar die Einführung einer oder mehreren neuen Tacktarten? Wenn man dieses blos deshalb unterließe, weil sie nicht im Gebrauche sind; oder (wie man sich gewöhnlich auszudrücken behebt) weil sie nicht allgemein empfunden werden; wäre das nicht ganz wider den edelsten Zweck der Kunst, und wider die gesunde Vernunft? Denn, wie viel wird allgemein nicht empfunden, was doch edel, groß und kühn in seiner Art ist? Dieses beweist Klopstocks Dichtkunst, Kants Philosophie, die Differential und Integralrechnung &.“

Musik ohne Tonalität
zu N° 4

„Der Geist, eingeschränckt durch wenige Mittel, sucht Auswege (und findet sie) auf welche er vielleicht nie verfallen wäre; und so erreicht er seinen Zweck.“

Stimmführung in kleinsten Schritten
zu N° 9

„Die Erfahrung lehrt, dass zwei Accorde, deren Intervalle um einen einzigen halben Ton steigen oder fallen, für das Gehör in ihrer Nacheinanderfolge nichts unangenehmes haben; vielmehr daß sie faßlich nicht selten sehr angenehm sind. Auf dieser Erfahrung beruht zum Beispiel die Richtigkeit des folgenden Satzes:“

Taktlose Musik
zu N° 14

„Ich habe in diesem Adagio versucht den Tackt ganz wegzulassen und nur allein dem Gefühle zu folgen….Dieses Adagio wird von Anfang bis ans Ende bis nach Vierteln abgemessen, weshalb ich 1/4 vorgezeichnet habe. Die Brüche, die man hier und dort antrift, als: 8/4 und 10/4, dienen eine Anzahl zu pausirenden Vierteln welche der Zähler anzeigt, schnell zu übersehen.“

Lese-Experiment
zu N° 18.

„Eine Grille, die wenig oder gar nichts zum Endzwecke hat. Dieses Allegretto soll aus Hisdur gehen; Hisdur und Cdur, ist beides nicht einerlei? wenigstens auf dem Forte-Piano.“

Form-Experiment: zwei ineinander
verschränkte Werke ergeben ein neues
zu N° 19.

„Ich habe mir einmahl folgende Frage aufgeworfen: ist es wohl möglich zwei verschiedene Tonstücke so zu verfertigen, daß sie sich in einander schieben lassen, um dadurch ein doppeltes Ganze zu bilden. Der Veranlassung dieser Frage habe ich dieses [sic] N° zu danken. Hiemit wird wenigstens die Erfahrung bestätigt, dass uns manches beim ersten Anblick unmöglich scheint, dem wir endlich doch durch anhaltendes Forschen Realität geben können. …“

Harmonie-Experiment: zwei ineinander
verschränkte Werke ergeben ein Neues
zu N° 23.

„Zwei Verminderte Septimenaccorde hinter einander hatte das musikalische Ohr Mühe zu fassen als es sie zum erstenmahl vernahm; wie viel faßt es ihrer nicht gegenwärtig hinter einander! Ja es faßt ihrer sogar zwei von verschiedenen Grundbässen gleichzeitig, wenn sie an den rechten Orte gestellt werden; freilich wird alles zusammen als ein durchgehender Accord angesehen und als solcher behandelt werden müssen.“

Zitiert aus: Anton Reicha: Philosophisch-practische Anmerkungen zu den practischen Beispielen, 1799-1802, in: Antoine Reicha: Unbekannte und unveröffentlichte Schriften, Band 1, Olms, 2011, S. 122ff

Gedanken zu Mathematik, Physik und Musik

„…die Gelehrten haben zu allen Zeiten
der Musik große Dienste erwiesen…“
Gedanken zu Mathematik,
Physik und Musik

„Die Vorliebe für das Lesen zeigte sich bei mir schon sehr früh. Meine Bevorzugten Bücher waren folgende, die mir Kenntnisse vermittelten. … All dies verstärkte meine außerordentliche Neigung zur Literatur und besonders zu den abstrakten Wissenschaften. Die Algebra und die Philosophie des berühmten Kant, der damals in Deutschland in Mode war, beschäftigten mich am meisten. Der Fortschritt, den ich in Algebra gemacht hatte, erwies mir später groß Dienste, denn ihr verdanke ich zum großen Teil die Kenntnisse, die ich in meiner Kunst erwarb, wie man später noch sehen wird. 1“

„Kaum war ich in der von Karl dem Großen gegründeten Stadt angekommen [1794], entsagte ich für immer der Tätigkeit als ausübender Musiker, um mich ausschließlich der Komposition zu widmen, die ich nur durch die Lektüre wissenschaftlicher Bücher unterbrach. Es ist zu bemerken, dass mir zu Zeiten der Ermüdung durch die Musik die Lektüre von Büchern über Mathematik, Physik, Philosophie etc. immer große Freude und Entspannung bereiteten. 2“

„Die Gelehrten haben zu allen Zeiten der Musik große Dienste erwiesen. Ihnen verdankt die Nachwelt wichtige Entdeckungen in dieser Kunst: wie Töne entstehen, die Unterteilung in verschiedene Skalen, die Noten und ihre Werte, die Notensysteme und die Schlüssel, der Takt, der Ursprung der Harmonik, ihre Grundlagen und Gesetze etc., das sind alles ihre Entdeckungen. Was wäre unsere Musik, was wären unsere Musiker ohne diese Erkenntnisse? Die bekannten Namen von Plato, Euklid, Pythagoras, Plutarch, Ptolemäus, Guido von Arezzo, Franco von Köln, Johannes de Muris, [Isaac] Newton, [Gottfried Wilhelm] Leibniz, [Leonhard] Euler, [Joseph Louis] La Grange, [Benjamin] Franklin, [Ernst] Chladni und viele andere müssen zumindest allen Musikern so wertvoll erscheinen, wie die Namen von Palestrina, Jomelli, Händel, Haydn etc. 3“

Zitiert aus: 1+2: Notice sur Reicha, Papiers Aristide Farrenc,
3: Sur la Musique comme art pure sentimental,
in: Antoine Reicha: Unbekannte und unveröffentlichte Schriften,
Band 1, Olms, 2011, S. 65-69, 293, 297.

Erörterung verschiedener Gegenstände

„…hierdurch könnte man bestimmen,
worin die Verwirrung der Musik besteht…“

Klänge und Raumformen
„Indem die Töne die Luft, welche die klingenden Körper umgibt, in Bewegung setzen, so zeichnen sie in derselben gewisse Umrisse. Sind nun diese Umrisse Linien, Vierecke, Zirkel, Ellipsen, & &? Diess ists, was wir von den Physikern und Mathematikern zu erfahren wünschen. Eine genaue Kenntniss dieses Gegenstandes würde uns in den Stand setzen, auf dem Papier diese melodischen und harmonischen Umrisse zu zeichnen, welche die Töne in der Luft bilden, und die hörbaren Umrisse mit den sichtbaren Umrissen zu vergleichen, was zu wichtigen Entdeckungen in Hinsicht auf die Verwandtschaft der beiden Sinne, des Gesichts und des Gehörs führen könnte. Hierdurch könnte man bestimmen, worin die Verwirrung der Musik besteht, das heisst, was, (selbst für das geübte Gehör) verständlich ist, und was nicht: hierdurch wäre es möglich zu bestimmen, was man zu thun habe, um nach und nach die Menge anzugewöhnen, auch solche Musik zu fassen, die nicht für sie ist; hierdurch wäre man im Stande die verschiedenen Grade von Verwicklung festzusetzen, deren die Musik fähig ist, und anzuzeigen, bis zu welchem Grade diese oder jene Nation fähig ist, dieselbe zu fassen, zu verstehen und zu würdigen.“

Vierteltöne
„Das kleinste Intervall in unserem Musiksysteme ist der Halbe_Ton. Und zwar nicht deshalb, dass das Ohr nicht im Stande sey, ein kleineres zu unterscheiden; aber nur, weil man das Mittel noch nicht gefunden, es in der Ausübung zu bezeichnen. Ein Gehör, das nur einigermassen geübt ist, ist recht wohl im Stande auch einen Viertel_Ton zu unterscheiden, wenn er nur zwischen den beiden folgenden C liegt: [Grafik C/c3] ausser diesen Grenzen sind die Viertel_Töne schwer zu unterscheiden.
Nach dem Zeugnis des ARISTOTELES waren die Vierteltöne bei den alten Griechen, vor Alexander dem Grossen im Gebrauch. Wenn man die Vierteltöne in die Musik einführen könnte, würde die musikalische Sprache beträchtlich bereichert; man könnte getreuer die gewöhnliche Deklamation nachahmen, und in der Harmonie verschiedene Veränderungen anbringen. Man müsste untersuchen, ob die Vierteltöne, welche sich 1tens zwischen der kleinen und der grossen Terz, 2tens zwischen der grossen Terz und der reinen Quart, 3tens zwischen der reinen Quint und der kleinen Sext, 4tens zwischen der kleinen Sext und der grossen Sext befinden, auf das Gehör die Wirkung künstlicher Consonanzen hervorbrächten. Übrigens ist diese Erfahrung leicht zu machen, wenn man zwei Claviere so stimmen lässt, dass jedes GENAU um einen Viertelton von dem anderen verschieden ist.“

Zusammengesetzte Taktarten
„Die Musik ist sehr reich und abwechselnd an Tönen, an Intervallen, an Accorden, an Verschiedenheit des Notenwerts, an Instrumenten, und folglich an Verschiedenheit des Klanges, & &. Aber sie ist sehr arm an Taktarten. In der That haben wir nur zwei Gattungen von Takten, die zweitheilige und die dreitheilige. Diese unbegreifliche Armuth wird Ursache seyn, dass es bald unter die Unmöglichkeiten gehören wird, eine neue Gesangsphrase zu erfinden. Bis jetzt hat man sich hartnäckig widersetzt, neue Taktarten einzuführen, indem man unaufhörlich behauptete, dass alle anderen, als bis jetzt üblichen, hinkend und naturwidrig seyen. Man hat also nicht bedacht, dass unsere [3/4] Taktarten wirklich hinkend sind, und keine naturgemässe Bewegung nachahmen, indem sich in der Natur nichts dreitheilig bewegt; ebensowenig hat man bedacht, dass wir Laufe und in der Anwendung unserer zwei Haupttaktarten, von allen anderen Gattungen von Bewegung Gebrauch machen, obwohl diese, nichts in der Natur Vorhandenes nachahmenden verschiedenen Bewegungen auf keine Weise beleidigen. Wir wollen nichts weiter beifügen um noch mehr darzuthun, dass der Beweisgrund gegen die neuen Taktarten ohne allen Sinn ist. Die wahren Ursachen, die sich dieser Neuerung widersetzen, und noch lange widersetzen werden, sind: die Gewohnheit, nur zweierlei Taktarten zu hören und die Trägheit deren neue zu lernen und zu lehren.“

Zitiert aus: Anton Reicha: Compositionslehre, Band 4, Teil 10,
Erörterung verschiedener Gegenstände, welche bisher noch nicht
besprochen wurden, Paris 1824, veröffentlich in einer Übersetzung
von Carl Czerny, Diabelli, Wien, 1832
Klänge und Raumformen

DEU, Deutschland, Berlin, 12.03.2020,
Akademie der Künste Berlin,
Labor Beethoven - Festival zeitgenössischer Musik zum Beethoven-Jubiläum,
Ausstellung: Labor 1802-2020,
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Faksimile des Autographs Anton Reicha, 24 Kompositionen für Klavier: Practische Beispiele (1709-1802), Bibliotheque Nationale de France , S. 68, 70, 71, Fotos: Michael Pfisterer, Kai Bienert