Beethoven – 20/20 – Zender
Die Diabelli-Variationen

Beethoven und das Labor der Variation

Musikalische Variation lässt sich als eine experimentelle Anordnung verstehen: Wie weit kann ein Gegebenes, ein Thema, verändert werden, so dass es noch wiedererkennbar ist, aber zugleich durch seine neue, andere Gestalt überrascht? In ­diesem kreativen Potential der Variation lag wohl ein Grund, warum Beethoven sich so für diese Gattung interessiert hat. Insgesamt 20 Variationswerke über eigene und fremde Themen hat er zwischen 1782 und 1823 komponiert, ganz zu schweigen von den vielen Variationssätzen in Sonaten und ­Sinfonien.

Sein letzter Variationszyklus, die 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120, mutet gar an wie ein großes Labor, in dem Beethoven 33-mal ausprobierte, was zu seiner Zeit als Variation eines banalen Walzers denk- und komponierbar war. Diese Ausstellungsstation schaut und hört genauer auf die berühmt gewordene Variation Nr. 20. Denn dort ging Beethoven mit seinem Experiment am weitesten. Er erfand eine geheimnisvolle, avantgardistische Musik, in der er das Thema gerade noch erkennbar werden ließ und zugleich seiner Zeit weit vorauseilte. Die Rätselhaftigkeit dieser Musik rief viele Interpretationen und Kommentare hervor – pianistische, wissenschaftliche und kompositorische. Zu diesen gehören auch die 33 Veränderungen über 33 Veränderungen für Orchester, die Hans Zender 2010/11 schrieb – eine Hommage an den ganzen Variationszyklus und eine weitere „komponierte Interpretation“.

Die Station Beethoven-20/20-Zender ist aus einem musikwissenschaftlichen Seminar an der Universität Potsdam hervorgegangen. Sie wurde zusammengestellt und kommentiert von Christian Thorau, Marius Hofbauer und Jonas Ziehfreund, Universität Potsdam, Musikwissen-schaft

Ludwig van Beethoven, 33 Veränderungen C-Dur über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120, Autograph Beethoven-Haus Bonn, NE 294.
William Kinderman, Beethoven’s Diabelli Variations, New York 1987 (Neuauflage 2009)
Alfred Brendel, Nachdenken über Musik, München 1996.
Lydia Weißgerber, Intervallsatz beim späten Beethoven. Zur 20. Diabelli-Variation, in: Musiktheorie 14 (1999), H. 2, S. 171–178.
Hubert Moßburger, Anmerkungen zur Harmonik in der 20. Diabelli-Variation, in: Musiktheorie 14 (1999), H. 3, S. 269–274.
Christian Thorau, Vom Klang zur Metapher. Perspektiven der musikalischen Analyse, Hildesheim 2012.

Titelblatt der Originalausgabe 1823

Titelblatt der Originalausgabe 1823

Das Thema von Anton Diabelli

Der Variationszyklus entstand als Folge einer kuriosen Geschäftsidee: 1819 schickte der Musikverleger Anton Diabelli einen Walzer in C-Dur an Komponisten in Österreich und Böhmen und bat um jeweils eine Variation. In einem großen Sammelband wollte Diabelli 50 Variationen versammeln, auch Beethoven sollte ein Stück beisteuern. Dieser war aber weder von der Idee, sich in die anderen Kollegen einzureihen, noch von der kompositorischen Qualität des Walzers begeistert. Er soll den Walzer einen „Schusterfleck“ genannt haben, ein abwertender Begriff für eine Musik, die mit harmonischen Versatzstücken arbeitet. Die Machart von Diabellis Walzer scheint aber ein Ansporn für Beethoven gewesen zu sein, zu zeigen, was ein kreativer Geist aus diesem Material erzeugen kann. 1823 hatte Beethoven 33 ­Variationen vollendet. Entstanden war ein „Mikroskosmos Beethovenschen Geistes“, wie Hans von Bülow den fast einstündigen Klavierzyklus nannte.

Im Kopfhörer erklingt die Interpretation von Alfred Brendel von 1990. Er spielt das Thema in schnellem Tempo (Vivace) und mit einem sehr trockenen, spitzen Humor. Hören Sie sich das Thema ein- oder zweimal an. Auf Tafel 7 finden Sie ein skizziertes Farbschema, das helfen kann, die kurzen und langen Phrasen mit ihren Harmonien nachzuvollziehen. In der Variation 20 wird sich die Gestalt dann völlig wandeln, aus dem Walzer entsteht eine neue Musik.

Das Thema von Anton Diabelli (Originalausgabe 1823)

Variation 20 hören

Die Variation Nr. 20 ist eine interessante und überraschende Hörerfahrung. Der Kopfhörer bietet wieder die Aufnahme mit Alfred Brendel.

  • Hören Sie eine Verwandtschaft zum Thema?
  • Können Sie das Walzer-Thema, wenn auch sehr weit entfernt, noch erkennen?
  • Welche Assoziation entstehen für Sie beim Hören?
  • Klingt diese Musik nach Beethoven?
  • In welchen Stil würden Sie diese Musik einordnen, wenn Sie nicht wüssten, dass das Stück von Beethoven ist?
  • Was für einen Titel würden Sie dieser Variation geben?

Bild: Variation 20 (Originalausgabe 1823)

Variation 20: Ein Rätsel?

Alfred Brendel hat diese Variation eine Grenzüberschreitung genannt und hielt nichts davon, die merkwürdigen Klänge analytisch zu erklären: „Ich sehe nicht ein, weshalb diese Stelle nicht unerklärlich bleiben, ‚irrational‘ komponiert sein sollte.“ Er gab dem Stück den Titel Mysterium und steht damit in einer Deutungstradition, die das Rätselhafte dieser Musik in Metaphern zu fassen sucht. Hans von Bülow nannte die Variation 20 eine „Hieroglyphe“ und Franz Liszt sprach von einer musikalischen „Sphinx“. Der Beethovenforscher William Kinderman nannte das Stück „eine Festung des inneren Friedens“ und spielte damit auf die Stellung der Variation als zeitliche Mitte des Zyklus und den nach innen gekehrten, extrem ruhigen Charakter an.

Dagegen stehen die Versuche der Musikwissenschaft, doch eine rational-logische Erklärung zu bewerkstelligen. Diese Ambition hat eine gewisse Berechtigung, denn mit dem Thema gibt es einen klaren Bezugspunkt. Die Variation kann als eine (wie auch immer komplexe) Ableitung vom Thema beschrieben werden. Das Stück beginnt wie ein sehr langsamer Kanon im tiefen Bassregister und hat durch den gleichförmigen Rhythmus eine Ähnlichkeit zu einem Choral. Über die Klänge und Akkordfolgen, die ab T. 9 beginnen, entwickelte sich aber ein musiktheoretischer Disput. Die Analysen von Lydia Weißgerber und Hubert Moßburger zeigen, wie weit Begriffe und Theorien gedehnt werden müssen, um zu einer plausiblen Erklärung zu kommen. Der Streit, ob und welche ­Musiktheorie den Klängen der Variation 20 gerecht wird, ist wohl auch als Symptom der Kreativität von Beethovens kompositorischer Erfindung zu lesen.

Disput I: Die Variation 20, linear-melodisch erklärt

Lydia Weißgerber geht von der These aus, dass die 20. Diabelli-Variation die Musiktheorie an ihre Grenzen bringt. Die Harmonik dieser Musik ist an manchen Stellen so dezentriert, also nicht mehr auf ein tonales Zentrum bezogen, dass sie durch herkömmliche Begriffe nicht mehr erklärbar ist. Die Funktionstheorie, die die meisten zu Beethovens Zeiten üblichen Harmoniefolgen erläutern kann, scheint hier zum Scheitern verurteilt. Lydia Weißgerber nutzt diese Erklärungsnot als Ausgangspunkt für ihre Analyse des Stücks.
Sie schlägt eine alternative Erklärung vor, die den Intervallsatz, also die linear-melodische Gestaltung, in den Mittelpunkt stellt. Von einem simplen Motiv, einem „Intervallsubstrat“ ausgehend, entwickelt sich so, nach und nach, die gesamte 20. Variation. Das Intervallsubstrat ist dabei das höchst komprimierte, auf das kleinste Element konzentrierte Motiv aus den Takten 9-13 des ­Diabelli-Walzers (Abb. 1). Dieses Substrat wird schrittweise weiterentwickelt, verdoppelt, verschoben und verzahnt, bis die Klangfolge der Takte 9-12 der 20. Variation sichtbar wird (Abb. 2-5). Lydia Weißgerber führt diese Art der modellhaften Entwicklung des Intervallsatzes der 20. Variation für das gesamte Stück durch und zeigt so, wie ­Beethoven durch Entwicklung und Verfremdung einer simplen Intervallfolge die Grenzen dessen, was harmonisch üblich und gefällig war, hinter sich ließ.

Im Folgenden werden Notenschrift und grafische Darstellung gegenübergestellt. Im Audioplayer können Sie diese Entwicklungsstufen auch hören.

Als wie nachvollziehbar empfinden Sie diese Erklärung?

Abb. 1: „Intervallsubstrat“ aus dem Motiv des Themas (T. 9-13)

Abb. 2: Chromatische Fortführung, Verdopplung, Verschiebung und Verzahnung

Abb. 3: Reduktion und Transposition

Abb. 4: Modifizierung und Wiederholung

Abb. 5: Takte 9-12 der 20. Diabelli-Variation

Klangbeispiele zu Abb.1-5, produziert von Marius Hofbauer

Disput II: Die Variation 20, harmonisch erklärt

Auf Lydia Weißgerbers linear-melodischen Ansatz antwortet Herbert Moßburger mit einer Analyse, die sich auf die Akkorde und Harmonien bezieht. Er versucht die These von Weißgerber, dass die Akkorde der Variation 20 musiktheoretisch nicht mehr erklärbar seien, zu widerlegen. Dabei bezieht er sich auf den Harmonietyp als Formtyp einer musikalischen Variation (eine Idee von Carl Dahlhaus). Die harmonische Variation ist in diesem Fall nicht nur als Neuharmonisierung einer Melodie, sondern auch im engeren Wortsinn zu verstehen: Harmonische Zusammenhänge können selbst zum Gegenstand der Variation werden.

Für ein Spiel mit harmonischen Varianten bieten sich besonders die Takte 9-12 bzw. 25-28 an. Beethoven meinte wahrscheinlich genau diese Takte, als er das Thema als „Schusterfleck“ bezeichnete. Gerade aus diesen Takten aber entwickelte Beethoven eine sehr extreme, harmonische Variation – wohl auch um zu zeigen, was sich aus einer scheinbar simplen Harmoniefolge machen lässt. Moßburger beschreibt das Variieren und Steigern der harmonischen Komplexität in der 20. Variation als einen beabsichtigten, von Beethoven auskomponierten Prozess. Dieses Variieren und Steigern erreicht Beethoven durch Stellvertreter-Harmonien der ursprünglichen Funktionen im Thema. Dabei geht er so weit, dass er Stellvertreter der Stellvertreter verwendet und diese nur durch Andeutungen umschreibt, wie eine potenzierte Variante der Ausgangsakkordfolge. Selbst für die rätselhaften Takte 27-28 hat die Musikwissenschaft ein Modell gefunden, das Beethoven benutzt und adaptiert hat (eine chromatische Akkordfolge, die damals die „Teufelsmühle“ genannt wurde). Moßburgers funktionstheoretische Analyse des harmonischen Kerns der Variation, notiert in ihren typischen Zeichen, sieht wie folgt aus:

Da diese funktionstheoretische Schrift nur von Experten lesbar ist, haben wir in der Grafik (s. Tafel 7) versucht, Thema und Variation Nr. 20 als Farbvisualisierungen gegenüberzustellen. Die gewählten Farben sind von einer synästhetischen Darstellungsweise inspiriert, folgen aber analytischen Überlegungen. Unterschiedliche Farben bilden verschiedene Harmonien ab, wodurch sich die harmonische Variationstechnik des Stücks anhand der Farben verfolgen lässt. Die im Laufe der Variation immer stärker werdende harmonische Komplexität spiegelt sich im Aufbrechen der Farben und Formen wieder. Der Höhepunkt befindet sich in den Takten 27-28, in denen sich Beethoven so weit von dem harmonischen Gravitationszentrum des Ausgangswerks entfernt, dass man sich als Zuhörer für einen Moment frei schwebend im All wähnt. Oder in einer Drehung der „Teufelsmühle“.

Moßburgers funktionstheoretische Analyse (S. 272)

Die Variation 20 als Farbexperiment

  • Verfolgen Sie die Grafik, während Sie das Thema und die 20. Variation hören.
  • Als wie nachvollziehbar empfinden Sie den Ansatz der harmonischen Variation kombiniert mit der visuellen Darstellung?
  • Sind die Farbverhältnisse für Sie nachvollziehbar oder lösen die Klänge andere Farbwahrnehmungen aus?

Farbskizze zum Thema und zur 20. Variation,  erstellt von Jonas Ziehfreund

Beethoven: Thema
Alfred Brendel, Beethoven.
Diabelli-Variationen, 1990, Philips.

Audio 2: Beethoven: Variation 20
Alfred Brendel, Beethoven.
Diabelli-Variationen, 1990, Philips.

Von Beethovens Variationen zu Hans Zenders „komponierter Interpretation“

Was bedeutet es, ein Werk wie die 20. Diabelli-
Variation zu analysieren oder zu interpretieren? In der Musikwissenschaft wird meist versucht das notierte Werk in seiner historischen Form so genau wie möglich zu dekodieren und damit zu einer möglichst werkgetreuen Darstellung zu gelangen. Doch welche Alternativen gibt es zu dieser sterilen Herangehensweise? Der Komponist Hans Zender fand einen Weg für eine lebendige, hörbare Auseinandersetzung mit Beethovens Werk: eine „komponierte Interpretation“. Ähnlich wie Zender bereits mit Werken von Haydn, Debussy und Schubert vorgegangen war, komponierte er 2010/11 die 33 Veränderungen über 33 Veränderungen als instrumentale Neuinterpretation der Klavier-Variationen. Die Komposition vermittelt zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Vergleichbar mit einem Regisseur, der ein klassisches Drama mit zeitgenössischen Stilmitteln aufführt, zielt Zender dabei nicht auf einen Bruch oder eine Dekonstruktion ab. Vielmehr präsentiert er eine „alternative Lesart der Tradition“ und regt so zu „forschendem Neu-Hören“ an.

Hören Sie sich die Variation Nr. 20 von Zender an. Durch den zusätzlichen musikalischen Parameter der Instrumentierung der einzelnen Stimmen, hatte Zender verstärkt die Möglichkeit seine eigene Wahrnehmung des Stücks in die Komposition einfließen zu lassen.

  • Was meinen Sie, welchen analytischen Ansatz er beim Komponieren im Sinn hatte? Den von Lydia Weißgerber beschriebenen Ansatz, der den Intervallsatz, also die linear-melodische Gestaltung, in den Mittelpunkt stellt? Hören Sie, wie die aus melodischen Motiven entwickelten Linien mit den Instrumenten gezogen werden?
  • Oder hören Sie den Ansatz Moßburgers? Spielt Zender durch die Klangfarben der Instrumente mit den Klangfarben der Harmonien?
  • Erkennen Sie das Variieren von Farben und Formen wieder?

Faksimile des Autographs Hans Zender: 33 Veränderungen über 33 Veränderungen für Orchester, XX. Variation, Archiv der Akademie der Künste, S. 92-97

DEU, Deutschland, Berlin, 12.03.2020,
Akademie der Künste Berlin,
Labor Beethoven - Festival zeitgenössischer Musik zum Beethoven-Jubiläum,
Ausstellung: Labor 1802-2020,
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Fotos: Kai Bienert, Michael Pfisterer